Textilindustrie kurz vor dem aus
Inflation in der Türkei
Die Maschinen in Babadağ, der sogenannten Wiege der türkische Textilindustrie stehen still. Der Grund dafür ist: Die Firmen können die enorm gestiegenen Stromkosten nicht mehr tragen.
Bis in die Zeiten des Osmanischen Reiches reicht die Textilgeschichte der Türkei zurück. Insbesondere als Produzenten haben sich die Türken in der Vergangenheit einen Namen gemacht, circa zehn Prozent beträgt der Anteil dieses Industriezweiges an der türkischen Wirtschaft. In der Textilindustrie arbeiten etwa acht Prozent der türkischen Beschäftigten. Trotz großer Konkurrenz aus dem asiatischen Raum ist der Sektor ein sehr entscheidender Faktor für die türkische Wirtschaft.
Babadağ ist eine Stadt in der türkischen Provinz Denizli im westlichen Kleinasien, etwa 7000 Personen wohnen hier. Hier lebt man seit Jahrhunderten von der Textilindustrie. Babadağ gilt als Ursprung, als Symbol der türkischen Textilindustrie, auch wenn heutzutage größere Produktionsstandorte existieren. Man hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer weiter spezialisiert: Es steht nicht die Massenproduktion im Vordergrund, vielmehr die Spezialanfertigungen.
Doch jetzt stehen die circa 4000 Webstühle still. Verantwortlich sind die enorm angestiegenen Strompreise – und eine Inflationsrate von etwa 50 Prozent. Mehrere Unternehmen können die Rechnungen nicht mehr stemmen, deswegen muss die Produktion vorübergehend eingestellt werden. Das hat fatale Folgen für die Mitarbeiter: Sie müssen oftmals ohne Lohn zu Hause bleiben. Und dann kommen noch zusätzlich die angestiegenen Lebenskosten dazu, obwohl das Geld auch so schon weniger wert ist.
Seit 25 Jahren ist Şahin Çetin Textilunternehmer. Er besitzt einen kleinen Betrieb mit 20 Webmaschinen und drei Mitarbeitern. In den vergangenen Tagen bekam er seine Stromrechnung. Eine böse Überraschung für ihn: 127 Prozent mehr als im Monat zuvor. Er hat deswegen seine Maschinen gestoppt und seine Mitarbeiter nach Hause geschickt. Wie es weitergehen soll weiß Çetin noch nicht. Er überlegt, seine Preise zu erhöhen. Das könnte wiederum aber die Kunden verschrecken.
Das ist nicht nur wirtschaftlich eine Katastrophe. Mit Sorge betrachten die Menschen in der Türkei die steigende Arbeitslosigkeit. Vor Kurzem hat das staatliche Türkische Statistische Institut (TÜIK) die Zahlen bekannt gegeben: 11,2 Prozent Arbeitslosigkeit. Die Dunkelziffer könnte jedoch weitaus höher liegen.
Die Türkei steckt momentan in einer Energiekrise. Die Gasknappheit wird immer mehr zum Problem. Der wichtige Importeur Iran liefert mal weniger, mal mehr, mal überhaupt nichts. Die Folge sind Stromausfälle und Produktionsstopps in der Industrie. Und wenn mal Strom da sein sollte, ist dieser sehr teuer. Die starke Inflation verteuert vieles und lässt auch die Energierechnungen in schwindelerregende Höhe steigen.
In der Türkei erlebt man erstmals so umfangreiche Störungen im Gas- und Energiemarkt. Deshalb wächst in der türkischen Industrie die Sorge vor weiteren Ausfällen oder Lieferunterbrechungen. Viele Unternehmen befürchten deswegen, dass der Ruf der Türkei als vertrauenswürdiger Produktionsstandort leiden könnte.
In der Türkei stehen nächstes Jahr wichtige Wahlen an. Präsident Erdoğan möchte unbedingt wiedergewählt werden. Da kann er sich keine schwächelnde Wirtschaft leisten. Deswegen ist er gezwungen, die Wirtschaftskrise schnell zu beenden – angesichts der Rahmenbedingungen eine große Herausforderung.
Die Menschen in der Textilstadt Babadağ und der Textilunternehmer Çetin hoffen, dass in naher Zukunft ihre Maschinen wieder laufen werden und sie wieder Geld verdienen können. Denn: Ein weiterer Anstieg der Energiekosten könnte das Ende der Textilindustrie in Babadağ bedeuten.
Autorin: Sophie Pixis